Salon BRASILIEN / Nr.5 / CYBERSYN

In der 5. Veranstaltung der Reihe „Salon BRASILIEN“ geht es um

CYBERSYN CHILE

Modelle, die eigentlich eine Realität abbilden, fallen gelegentlich so aus ihrer Zeit, dass ihre futuristische Ästhetik sie uns als einen Zukunftsentwurf erscheinen lassen. Der Grad ihrer allgemeinen Unbekanntheit steigert die Irrealität ihres visionären Charakters dann ins Abstruse, wenn wir erfahren, dass sie tatsächlich einmal Realität waren – um dann spurlos aus dem kollektiven Gedächtnis zu verschwinden.

Auf einen solchen Fall bezieht sich das Modell des „OPS-ROOM“, das von Andreas Mayer-Brennenstuhl nach den wenigen existierenden Fotos eines Transaktionsraumes gebaut wurde, der in den frühen 70er Jahren im sozialistischen Chile der Allende-Zeit kurzzeitig existierte. Im Gefolge des Militärputsches am 11. Sept. 1973 verschwand dieser visionäre Raum von der Bildfläche. Die Geschichte, die damit verbunden ist, soll in unserem „SALON BRASILIEN“ am 23.November erzählt und reflektiert werden.

Mit Sergio Vesely wird ein Zeitzeuge teilnehmen, der als junger Student der Wirtschaftswissenschaften die Wirtschaftsexperimente Allendes und den Putsch Pinochets miterlebte. Von der Bundesrepublik aus der Lagerhaft in Chile freigekauft, lebt er seit 1975 als Musiker und Schauspieler in Deutschland.

Der OPS-ROOM war als „Steuerzentrale des Projektes „CYBERSYN“ gedacht. Von hier aus sollte nach den Plänen der Allende-Regierung der „kybernetische Sozialismus“ verwirklicht werden, bei dem die Wirtschaft des Landes nicht mehr als sozialistische Planwirtschaft, sondern im Sinne der neu entwickelten Kybernetik durch eine vernetzte und rückgekoppelte Kommunikation von Zentrum und Peripherie entwickelt werden sollte.

Da es zu dieser Zeit noch keine funktionierenden Internet-Verbindungen gab, wurden die Daten aus den verschiedenen Wirtschafts-Bereichen mittels eines Netzes von 500 Fernschreibern übermittelt und in einem IBM-Computer 360/50 verarbeitet. Diese wurden dann von Assistenten in Schaubildern verdichtet und abfotografiert, um sie dann von hinten auf Leinwände zu projizieren, die wie Flachbildschirme wirkten. Die im Raum versammelten 7 Wirtschafts-Experten sollten dann in möglichst engem Kontakt mit der Wirklichkeit ihre Entscheidungen treffen und ins System einspeisen.

Der britische Wissenschaftler Stafford Beer hatte die Algorithmen und die technischen Grundlagen zu diesem kybernetischen Arbeitsmodell entwickelt, besonderen Wert legte er dabei auf seine „algedonische Schleife“, bei der stets ein Feedback vor dem nächsten Handlungsschritt eingearbeitet wurde, das positive Entwicklungen belohnte und negative bestrafte.

Der ab Ende der 60er Jahre in Lateinamerika wirkende deutsche Designer Gui Bonsiepe hatte auf Anregung von Stafford Beer die Ausstattung des „OPS-ROOM“ im Stil eines englischen Clubs entworfen: bequeme Drehsessel mit Abstellmöglichkeit für das Whisky-Glas und überdimensionalen Aschenbechern für die Zigarren sollten dem Steuerteam ein komfortables Arbeiten ermöglichen. Die Bomben Pinochets setzten dem kurzen Traum vom kybernetischen Sozialismus am 11. September 1973 ein jähes Ende.

50 Jahre später erscheint uns dieser Raum und der damit verbundene Traum als ziemlich irreal und zugleich als ein Vorgriff auf die aktuellen Entwicklungen einer weltweit vernetzten Wirtschaft, die in Echtzeit Entscheidungen erfordert und vollständig „durchdigitalisiert“ ist. Das systemisch-kybernetische Denken, das übrigens auch im Chile der frühen 70er Jahre (durch Francisco Varela und Humberto Maturana) entwickelt wurde, ist heute geläufig als Grundstruktur aller komplexen Prozesse, seien es gesellschaftliche, wirtschaftliche oder psychologische.

Gegen die Bomben sinnloser Zerstörungswut hilft Erkenntnis wenig, oder gilt gar: Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben?


Gefördert durch das Land Baden-Württemberg und die Stadt
Stuttgart.

Die Reihe Salon BRASILIEN nimmt in ihrem Titel Bezug sowohl auf die Leuchtschriftinstallation BRASILIEN, die Begleitbüro SOUP 2021 auf der kleinen Schalterhalle am Hauptbahnhof Stuttgart im Rahmen des Festivals Current – Kunst und urbaner Raum für ein halbes Jahr installiert hatte, als auch auf die Referenz dieser Installation, eine Attrappe Stuttgarts im 2. Weltkrieg bei Lauffen am Neckar, die in Form eines Nachtbildes der Innenstadt unter der Tarnbezeichnung BRASILIEN vom Luftgaukommando 7 als Scheinanlage betrieben wurde.

Mit Salon BRASILIEN möchte Begleitbüro SOUP in einer Veranstaltungsreihe künstlerische Position, die sich eines erweiterten Modellbegriffs bedienen, einem immer neuen Gästekreis näher bringen, um inspirierende Denk- und Arbeitsmodell im Gespräch zu reflektieren und kontrovers zu diskutieren.

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