Die Bedeutung des Graukartons
Graukarton wird aus Altpapier hergestellt, er ist ein sehr billiges und vielseitiges Material, das Modellbauer gerne verwenden. So hat auch Wolfgang Frey mit diesem Material gearbeitet. Von ihm sind die drei präsentierten Modellbauelemente, die sich in den drei Vitrinen befinden.
Sie sind übriggebliebene Reste von Wolfgang Freys Stuttgart-Modell¹.
Eine alltägliche Erfahrung ist, dass einfache und billige Gegenstände eine große Bedeutung erlangen können. Erinnerungsstücke brauchen nicht kostbar zu sein, um persönlich bedeutend zu sein. Kollektive Bedeutung erlangt ein einfacher Gegenstand, der materiell zunächst mehr oder weniger wertlos ist, meist nur, wenn er mit einem bedeutenden Ereignis oder einer bedeutenden Person verbunden ist. In der Basilika Santa Maria Maggiore in Rom pilgern Tag für Tag Tausende von Touristen fasziniert an alten Holzstücken vorbei, denen zugeschrieben wird, Teil der Krippe von Jesus Christus zu sein. Dabei scheint es belanglos, dass das Holz, das die Heilige Helena etwa 300 nach Christi Geburt aus Betlehem mitgebracht hat, nüchtern betrachtet wohl nie mit Jesus Christus in Berührung gekommen ist.
Bedeutung liegt zunächst jenseits von materiellen Werten, doch sie kann sehr teuer werden. Dann können einfache Gegenstände sehr viel Geld kosten. Im Kommerzialisierungsprozess ist allerdings die Bedeutung ständig der Gefahr ausgesetzt, sich zu verlieren. Wolfgang Frey steht dem entgegen. Öffentliche Anerkennung oder gar kommerzieller Erfolg, seine Anlage oder gar sich selbst zur Ware zu machen, waren nicht sein Ziel. Diese Strategie, mit der Welt umzugehen, wird immer ungewöhnlicher, je zentraler die gesellschaftliche Frage zu sein scheint, wer wann, wie und womit mehr oder weniger öffentlich an Bedeutung gewinnt.
Frey baute dreißig Jahre lang alleine ohne fremde Hilfe an seiner Anlage. Diese bestand aus einem detailgetreuen Modell des Stuttgarter Hauptbahnhofs, seiner Gleisanlagen und seiner städtischen Umgebung im Maßstab 1:160. Gleichzeitig baute er das Innere des Stellwerks am Hauptbahnhof, seinen Arbeitsplatz, im Maßstab 1:1 nach. Der Nachbau der Stellwerkstechnik sollte es ermöglichen, den Fahrbetrieb des Hauptbahnhofs exakt auf der Modellbauanlage zu reproduzieren. Inwieweit das gelang, bleibt ein Geheimnis, das Frey mit ins Grab nahm. Vermutlich haben die Größe und Komplexität des Projekts die Möglichkeiten eines Einzelnen allein schon durch die zeitliche Begrenztheit eines Menschenlebens bei weitem überschritten. Aber der Versuch bleibt etwas sehr Besonderes und das Besondere ist oft etwas Bedeutendes. Der Graukarton in der Vitrine ist also nicht einfach Graukarton, sondern es ist Graukarton, den Frey bearbeitet hat, er war Teil dieses großen Plans, als einzelner eine riesige technische Maschinerie mit zugehöriger Landschaft zu beherrschen, allerdings nur im Modell. Auch wenn eine solche Art der Gegenstrategie leicht in die Isolation führt, geht eine Faszination von ihr aus. Sie steht der Strategie gegenüber, sich selbst zu optimieren, sich immer besser anzupassen, um der Angst, die Vorgaben der Gesellschaft nicht oder nicht mehr erfüllen zu können, abgehängt zu werden, keine Anerkennung mehr zu finden, zu überwinden.
Peter Schmidt
→www.oma-maier.de
¹ Wolfgang Freys Modell von Stuttgart ist in Herrenberg zu besichtigen
(s. www.stellwerk-s.de).