„Eine Festung der Einsamkeit“: Das Wolfgang-Frey-Projekt

Kunst ohne Publikum

Von 1992  bis zu seinem Tod baute der Eisenbahnangestellte Wolfgang Frey (1960 – 2012) mitten in Stuttgart, in dem 450 Quadratmeter großen Zwischengeschoss C2 (tief) der S-Bahn-Haltestelle Schwabstraße, an einer einzigartigen, andernorts bereits 1978 begonnenen Modelleisenbahnlage, die aufgrund ihrer Detailliertheit inzwischen Berühmtheit erlangt hat, obwohl nur wenige Eingeweihte die Anlage je im Original gesehen hatten. Die Anlage wurde vom Gleisfeld des Stuttgarter Hauptbahnhofs aus entwickelt und reichte zum Schluss bis nach Bad Cannstatt und zum Westbahnhof. Um diese riesige Anlage steuern zu können, hatte Wolfgang Frey im Vorraum zudem noch in mühevoller Kleinarbeit eine exakte 1:1 – Replik seines Arbeitsplatzes im Stuttgarter Hauptstellwerk erstellt, mit sämtlichen elektronischen Steuerkonsolen und der riesigen Schalttafel. Fast drei Jahrzehnte lang pendelte er tagtäglich zwischen Arbeitsplatz und „Hobbybunker“ hin und her, bis er sich schließlich fast nur noch in dieser unterirdischen Enklave aufhielt und kaum mehr in der Außenwelt auftauchte.

Obwohl die Modellbahnzeitschrift MIBA in einem Sonderheft 2004 eine große Fotoreportage über Wolfgang Freys Modellbahnwelt mit einem von ihm selbst verfassten Text brachte und auch im SWR-Fernsehen mehrfach über die Anlage berichtet wurde, blieb ihr genauer Ort dennoch weitgehend geheim. Die nach dem Tod ihres Erbauers verwaiste Anlage wurde 2017, nachdem die Verhandlungen der Erben mit der Stadt Stuttgart gescheitert waren, von einem Herrenberger Unternehmensberater gekauft und ist dort nun der Öffentlichkeit zugänglich.

→www.stellwerk-s.de

Aus Platzgründen konnte die Anlage jedoch nicht komplett nach Herrenberg transferiert werden. So ist z.B. die Stellwerksreplik in Herrenberg nur in Teilen vorhanden und wesentliche Funktionen der Anlage können nur eingeschränkt präsentiert werden.

Der jetzige Besitzer bewirbt die Anlage mit dem Hinweis, dass es sich hier nicht bloß um eine Modelleisenbahn, sondern um ein „Kunstwerk“ handle. Dies nicht nur wegen der handwerklichen Qualität der Modelle und der Vielzahl an kreativen Einfällen, die in die Anlage eingegangen sind, sondern auch wegen der Tatsache, dass ihr Erbauer damit ein Bild des eigenen, zwischen Beruf und Freizeit hin und her pendelnden Lebens geschaffen hatte. Dieser Bedeutungsüberschuss der Anlage kann jedoch, wenn überhaupt, in Herrenberg nur unvollkommen repräsentiert werden.

Das nunmehr verlassene Zwischengeschoss bietet noch eine Unmenge an verwertbaren Spuren, die den Rest der Geschichte fassbar machen: fertig gebaute, aber in Herrenberg nicht mehr unterzubringende Anlagenteile, Abfallholz, Monitore, technische Geräte, Video- und Musikkassetten, Bücher und andere persönliche Erinnerungsstücke, allesamt dazu bestimmt, entweder weggeworfen zu werden oder aber als Material zu dienen für eine künstlerische Auseinandersetzung mit den Restgrößen eines auf Perfektion angelegten und vielleicht deshalb zum Scheitern verurteilten Lebenswerks. Zudem bietet der frei gewordene Raum, der – wie schon zu Wolfgang Freys Zeiten – nur kleinsten Besuchergruppen zugänglich ist, einen experimenteller Produktionsort für Künstler aller Sparten. Der in der Kunstszene dieser Stadt schon mehrfach reflektierte Satz „Außer den Beteiligten gibt es kein Publikum“ kann in Fortführung der Freyschen Modellbaupraxis ironisch auf die Spitze getrieben werden und die völlig unzeitgemäße Frage aufwerfen, inwiefern der zeitweise Ausschluss von Öffentlichkeit einer Sache auch gut tun kann.

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